Poesie zwischen A4 und B264

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Prof. Günther H. Blecks
Dr. Ulrich Schneider
Karl-Heinz Jeiter


BILDER


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Bei den Bildern von Albert Borchardt sieht man sofort, daß er sich auf die Tradition der neuzeitlichen europäischen Landschaftsmalerei bezieht mit ihrer Orientierung am perspektivischen Raum und der Schichtung des Bildraumes in Vorder-, Mittel- und Hintergrund. Ein fundamentales künstlerisches Problem der Malerei der europäischen Neuzeit war das Verhältnis von Bildraum und Bildfläche.
Die 27 kleinen Bildtafeln von Albert Borchardt kann man u.a. verstehen als Lehrstück zum Verhältnis von Bildraum und Bildfläche, als Präsentation von 27 Lösungsmöglichkeiten zu diesem Problem. Der Titel der 3 großen Tafeln mit ihren jeweils 9 kleinen, gleichgroßen Bildtafeln lautet "Poesie zwischen A4 und B264 - 1992".

Dieser Titel enthält eine überraschende Diskrepanz, die auch den Bildern eigentümlich ist.
"Poesie" verweist zurück auf Landschaftsmalerei des 19.Jahrhunderts; "zwischen A4 und B264" entspricht dem Wortschatz von Autofahrern und Straßenkarten. Albert Borchardt schreibt im Begleittext zu seinen Bildern: "Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem Landschaftsraum Eschweiler, gelegen vor dem nördlichen Eifelrand, ist eine Auseinandersetzung mit meiner näheren Umgebung, meiner Heimat." So wie Poesie und Straßenbezeichnung aufeinanderprallen,
so kollidieren Betrachtung über Grundprobleme der neuzeitlichen und der modernen Malerei mit dem Motivkreis Landschaftsraum "Eschweiler" und "Heimat". Diese Kollision entspricht den gesellschaftlich-politischen Veränderungen, die wir seit einigen Jahren insbesondere in Europa miterleben. Große politische Systeme und Staatengebilde sind zusammengebrochen, sind in andere politische Einheiten eingebaut worden oder haben sich in kleinere selbständige Einheiten aufgelöst. Die Entwicklung zur EINEN Welt, in der Alles mit Allem zusammenhängt (wie in der Kunst) und das Hinstreben zur Regionalität sind zwei Seiten des gleichen Entwicklungsprozesses. In der Kunst wird am konkreten Einzelfall das Allgemeine sichtbar. In der Literatur haben Dichter Welt und Leben verdichtet im Geschehen einer einzelnen Stadt (Paris, Berlin, Wien, St.Petersburg, Dublin u.s.w.) und in den Schicksalen einzelner Menschen. Es hat den Anschein, als ob in den letzten Jahren eine Entwicklung in Gang gekommen sei, von der Tendenz zur Uniformität, zur Gleichmacherei unter dem Diktat gleichmachender Prinzipien, zu einer gesichtslosen Internationalität wie sie die Hochhausbauten in den Cities vieler Großstädte schon weitgehend erreicht haben. Die Entwicklung scheint dahinzugehen, daß Welt, das Umfassende und Übergeordnete, am ehesten er-fahren und
er-lebt werden kann im überschaubaren Lebensumkreis, im regional Begrenzten, in dem, was als Heimat erfahren wird. Besonders eindringlich wird diese Entwicklungstendenz in den Filmserien "Heimat" und "Die Zweite Heimat" von Edgar Reitz.

Wenn man an Landschaftsmalerei des 19.Jahrhunderts denkt, dann verbindet sich mit Landschaftsmalerei die Vorstellung vom Engbegrenzten, vom Verhaftetsein im Kleinen und Kleinlichen, vom Idyllischen und Domestizierten. Der Titelbestandteil "zwischen A4 und B264" verweist auf Autofahrerperspektive. Autofahrer nehmen Landschaft anders wahr als Reisende in der Postkutsche. Die einzelnen kleinen Bildtafel von Albert Borchardt könnte man verstehen als Umsetzung rascher Blicke aus dem Autofenster, Blicke, die der Orientierung dienen und dem Erfassen des Gesamtcharakters der jeweiligen Landschaft. Aber diese Deutung wird zugleich relativiert. Der Fahrer am Steuer sieht die Gesamtsituation und Einzelheiten, die ihn im Augenblick interessieren: Verkehrsschilder, andere Autos u.s.w. . Von solchen Einzelheiten ist in den Bildern von Albert Borchardt nichts zu finden. Der Tourist, der sich im Reisebus durch eine fremde Landschaft fahren läßt, nimmt das Fremdartige, Auffallende oder das Vertraute, das bestimmten Klischees Entsprechende wahr. Borchardt sieht die Landschaft nicht durch die Brille des Touristen. Seine Landschaftsbilder sind inspektakulär, unauffällig, sie wirken als Vertrautes, Alltägliches, Gewohntes. Albert Borchardt stellt auf eine bemerkens- und bedenkenswerte Weise die Vorstellung in Frage, der Blick aus nächster Nähe könnte den Blick auf das große Ganze verstellen. Je weiter der Betrachter von den Bildern entfernt ist, umso landschaftsmäßiger und heimatlicher wirken die Bilder. Der Betrachter spürt die Tiefe der räumlichen Erstreckung, er wittert geradezu den Dunst,
der zwischen dem Vordergrund und einem hügeligen Hintergrund liegt, oder spürt das Bedrückende eines bleiern-grauen Himmels. Je näher man den Bildern in der Betrachtung kommt, umso mehr treten die gegenstandsbezogenen Assoziationen und Empfindungen zurück, umso mehr rücken spezifisch bildkünstlerische Phänomene und Probleme in den Bewußtseinshorizont des Betrachters, etwa das Verhältnis von Bildraum und Bildfläche. Und wenn mann schließlich so nah vor einer kleinen Bildtafel steht, daß man nur noch sie erfaßt, sind alle Anklänge an Gegenständlichkeit verloren gegangen. Man sieht sich mit Problemen reiner Malerei konfrontiert, etwa mit Relationen von Quantitäten oder der Raumwirkungen von durchscheindem farbigem Untergrund und von Übermalungen, die wie eine milchige Flüssigkeit über den Bildträger geflossen zu sein scheinen.
Der rotbraune Untergrund, auf den Borchardt seine deckende Farbe aufgetragen hat, läßt an den Bolusgrund der Barockmalerei denken. Aber Borchardt setzt ihn nicht wie die Barockmaler als Lieferanten" für Farbmischungen bei opaker oder lasierender Übermalung ein, sondern nutzt ihn bei Aussparungen zwischen deckendem Farbauftrag als Raumenergie, die aus dem Untergrund des Bildes nach vorne drängt. Umgekehrt entpuppen sich diejeweiligen Stellen im Bild, die materiell gesehen am weitesten vorne auf dem Bildträger liegen, als Farbwerte, die das am weitesten hinten Liegende in der Landschaft, nämlich den Himmel, repräsentieren. Diesen Umschlag im Verhältnis von Vorne und Hinten findet man auch sonst in den Bilder. Die Voraussetzung dafür ist,
daß Borchardt mit einfachen Flächenformen arbeitet, wodurch die Gleichwertigkeit und damit die Vertauschbarkeit von positiven und negativen Flächen möglich wird. Der Assoziation Blick aus dem Autofenster", die der Bildtitel nahelegt, wirkt entgegen die rasterartige Anordnung von jeweils 9 kleinen Bildtafeln auf einer großen weißen Tafel. Dadurch entsteht der Gesamteindruck eines Fenstergitters mit breitem Rahmen und schmalen horizontalen und vertikalen Stäben.
Stellt man die 3 großen Tafeln nebeneinander, so wird der Eindruck vom Blick durch's Gitterfenster noch verstärkt. Dabei entsteht eine irritierende Wahrnehmungssituation: Es entstehen 3 horizontale Reihen von je 9 Bildtafeln. Die Abfolge in der Horizontalen ist so, daß nach dem Verlauf des jeweiligen Horizonts der Eindruck entstehen könnte, man sehe ein Landschaftskontinuum durch ein Fenster hindurch. An einigen Stellen wird diese Abfolge durchbrochen und der Betrachter in der ungestörten Betrachtung aufgeschreckt, was dazu führt, daß er von einer Betrachtung von links nach rechts zu einer Betrachtung vom einzelnen Bild von vorne nach hinten oder zu einer Betrachtung der 3er Reihen von oben nach unten veranlaßt wird. Dieses Wandern des Auges einerseits von links nach rechts oder von oben nach unten und anderseits von vorne nach hinten korrespondiert unmittelbar mit dem Problem der Relation von Bildfläche und Bildraum. Der Blick durch's Fenster ist eines der großen Bildmotive der Romantik gewesen. Das Fenster als Mittler von Innenraum zu Außenraum bietet die Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Wohnwelt und Außenwelt oder Nähe und Ferne, eingebunden in die Enge der häuslichen Kleinwelt und der Sehnsucht in die Ferne zu thematisieren. Caspar David Friedrich hat das Kontinuum von Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund aufgebrochen und in vielen seiner Bilder Vordergrund und Hintergrund unvermittelt aufeinanderprallen lassen, um einen Bruch in der metaphysischen Situation des Menschen
sichtbar zu machen.

Bei Borchardt wechseln räumliche Kontinuität und Diskontinuität einander ab.
Das Oberflächliche, das durch die deckend aufgetragenen Farben erzeugt wird, fängt den Blick des Betrachters ab, versperrt durch den vorhangartig gemalten Himmel das Bild nach hinten hin.
Die Bilder sind alles andere als idyllisch. Die Vertrautheit mit dem Nahen, der Ablauf des täglichen Lebens Umschließenden verbindet sich mit Einstellungen, die nach landläufiger Auffassung einander ausschließen müssen: Skepsis, die fernab jeder Fortschrittsgläubigkeit ist, verbindet sich mit Bejahung des eigenen Lebensumraumes, Illusionslosigkeit im Hinblick auf Gefühle, Erwartungen, Hoffnungen und Traditionen verbindet sich mit der Bereitschaft, sich mit alledem standhaft auseinanderzusetzen. Die 3 großen nebeneinander stehenden "Fenster" ergeben eine merkwürdige Paradoxie: Einerseits erscheint der Blick durch's Fenster als vertrauenserweckend, da den kleinformatigen Landschaften alles Bedrohliche, Überwältigende oder in der Ferne Lockende fehlt, anderseits verweist die Segmentierung der Landschaft innerhalb der 3 großen Fenster in 27 kleine,
in sich selbständige Landschaftsbilder auf die Fähigkeit des Menschen, Landschaft aufzufeldern, einzugrenzen, zu parzellieren; darüber hinaus aber auch sie zu verändern, "umzukrempeln",
ja zu zerstören. Für den Autofahrer ist der Weg von Eschweiler bis zu den Gebieten des rheinischen Braunkohletageabbaus mit ihren Landzerstörungen nicht weit. Alles bisher Gesagte verweist auf Fragestellungen der europäischen Tradition. Das weiße Gitterraster, das zwischen den kleinen Farbtafeln entsteht, bringt dies in einer formelhaften Weise zum Ausdruck: Ein Koordinatengitter, das sich über die Welt legt und Zusammengehöriges zerschneidet. Demgegenüber ist es wichtig,
daß Borchardt zentralperspektivische Raumgliederung vermeidet (das gilt insbesondere für die 3 Mittelglieder der großen Tafeln). Borchardt legt den Standort des Betrachters nicht fest
(wie dies bei der Zentralperspektive der Fall ist). Die Landschaften sehen aus, als wären sie vom fahrenden Auto aus im Vorbeihuschen erfaßt.

Hier bietet sich der Gedanke an ostasiatische Rollbilder an, auf denen sich Landschaftsdarstellungen - oft von vielen Metern Länge - dem Auge so darbieten, das ein kontinuierliches Ablesen des Landschaftsverlaufes möglich wird, auch wenn im Auf- und Abrollen des Rollbildes jeweils nur ein Teil der Landschaft zu sehen ist. Schließlich drängt sich noch der Vergleich auf mit Negativstreifen eines Films mit Landschaftsschnappschüssen, die aus dem fahrenden Auto aufgenommen wurden.

Fassen wir zusammen: In den Landschaftsbildern von Albert Borchardt verbinden sich auf eine vielfältig durchdrungene und verquickte Weise, aber auf der Ebene souveräner Verfügung über die eigenen bildkünstlerischen Mittel: Momente unseres Alltaglebens, Sehgewohnheiten unter dem Einfluß moderner Verkehrsmittel (Auto, Autobus), moderner technischer Medien (Fotografie, Film, Fernsehnen), Lebensgewohnheiten mit extremen Tempowechseln (Blick aus dem Autofenster bei hoher Geschwindigkeit, geruhsames Schauen aus dem Wohnungsfenster), Leben in der Landschaft und mit der Landschaft im Bewußtsein ihrer Zerstörbarkeit, Auseinandersetzung mit der Situation des heutigen Menschen und des heutigen Künstlers vor dem Hintergrund der Tradition der europäischen Neuzeit und der grundlegenden Probleme der Moderne.

Borchardts Bilder verführen den Betrachter beim ersten Hinschauen dazu, sie zu unterschätzen.
Je länger sich der Betrachter schauend und reflektierend auf die Bilder einläßt, umso deutlicher wird die innere Logik und bildnerische Konsequenz, die aus äußerster Verknappung gewonnene Verdichtung und Komplexität.

Prof. Günther H.Blecks
Katalog: Weilburger Förderpreis für Bildende Kunst 1993



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©Text: Prof. Günther H. Blecks

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