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Bei den Bildern von Albert Borchardt
sieht man sofort, daß er sich auf die Tradition der
neuzeitlichen europäischen Landschaftsmalerei bezieht
mit ihrer Orientierung am perspektivischen Raum und der
Schichtung des Bildraumes in Vorder-, Mittel- und
Hintergrund. Ein fundamentales künstlerisches Problem
der Malerei der europäischen Neuzeit war das
Verhältnis von Bildraum und Bildfläche.
Die 27 kleinen Bildtafeln von Albert Borchardt kann man u.a.
verstehen als Lehrstück zum Verhältnis von
Bildraum und Bildfläche, als Präsentation von 27
Lösungsmöglichkeiten zu diesem Problem. Der Titel
der 3 großen Tafeln mit ihren jeweils 9 kleinen,
gleichgroßen Bildtafeln lautet "Poesie zwischen A4 und
B264 - 1992".
Dieser Titel enthält eine
überraschende Diskrepanz, die auch den Bildern
eigentümlich ist.
"Poesie" verweist zurück auf Landschaftsmalerei des
19.Jahrhunderts; "zwischen A4 und B264" entspricht dem
Wortschatz von Autofahrern und Straßenkarten. Albert
Borchardt schreibt im Begleittext zu seinen Bildern: "Die
Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem
Landschaftsraum Eschweiler, gelegen vor dem nördlichen
Eifelrand, ist eine Auseinandersetzung mit meiner
näheren Umgebung, meiner Heimat." So wie Poesie und
Straßenbezeichnung aufeinanderprallen,
so kollidieren Betrachtung über Grundprobleme der
neuzeitlichen und der modernen Malerei mit dem Motivkreis
Landschaftsraum "Eschweiler" und "Heimat". Diese Kollision
entspricht den gesellschaftlich-politischen
Veränderungen, die wir seit einigen Jahren insbesondere
in Europa miterleben. Große politische Systeme und
Staatengebilde sind zusammengebrochen, sind in andere
politische Einheiten eingebaut worden oder haben sich in
kleinere selbständige Einheiten aufgelöst. Die
Entwicklung zur EINEN Welt, in der Alles mit Allem
zusammenhängt (wie in der Kunst) und das Hinstreben zur
Regionalität sind zwei Seiten des gleichen
Entwicklungsprozesses. In der Kunst wird am konkreten
Einzelfall das Allgemeine sichtbar. In der Literatur haben
Dichter Welt und Leben verdichtet im Geschehen einer
einzelnen Stadt (Paris, Berlin, Wien, St.Petersburg, Dublin
u.s.w.) und in den Schicksalen einzelner Menschen. Es hat
den Anschein, als ob in den letzten Jahren eine Entwicklung
in Gang gekommen sei, von der Tendenz zur Uniformität,
zur Gleichmacherei unter dem Diktat gleichmachender
Prinzipien, zu einer gesichtslosen Internationalität
wie sie die Hochhausbauten in den Cities vieler
Großstädte schon weitgehend erreicht haben. Die
Entwicklung scheint dahinzugehen, daß Welt, das
Umfassende und Übergeordnete, am ehesten er-fahren
und
er-lebt werden kann im überschaubaren Lebensumkreis, im
regional Begrenzten, in dem, was als Heimat erfahren wird.
Besonders eindringlich wird diese Entwicklungstendenz in den
Filmserien "Heimat" und "Die Zweite Heimat" von Edgar
Reitz.
Wenn man an Landschaftsmalerei des
19.Jahrhunderts denkt, dann verbindet sich mit
Landschaftsmalerei die Vorstellung vom Engbegrenzten, vom
Verhaftetsein im Kleinen und Kleinlichen, vom Idyllischen
und Domestizierten. Der Titelbestandteil "zwischen A4 und
B264" verweist auf Autofahrerperspektive. Autofahrer nehmen
Landschaft anders wahr als Reisende in der Postkutsche. Die
einzelnen kleinen Bildtafel von Albert Borchardt könnte
man verstehen als Umsetzung rascher Blicke aus dem
Autofenster, Blicke, die der Orientierung dienen und dem
Erfassen des Gesamtcharakters der jeweiligen Landschaft.
Aber diese Deutung wird zugleich relativiert. Der Fahrer am
Steuer sieht die Gesamtsituation und Einzelheiten, die ihn
im Augenblick interessieren: Verkehrsschilder, andere Autos
u.s.w. . Von solchen Einzelheiten ist in den Bildern von
Albert Borchardt nichts zu finden. Der Tourist, der sich im
Reisebus durch eine fremde Landschaft fahren
läßt, nimmt das Fremdartige, Auffallende oder das
Vertraute, das bestimmten Klischees Entsprechende wahr.
Borchardt sieht die Landschaft nicht durch die Brille des
Touristen. Seine Landschaftsbilder sind inspektakulär,
unauffällig, sie wirken als Vertrautes,
Alltägliches, Gewohntes. Albert Borchardt stellt auf
eine bemerkens- und bedenkenswerte Weise die Vorstellung in
Frage, der Blick aus nächster Nähe könnte den
Blick auf das große Ganze verstellen. Je weiter der
Betrachter von den Bildern entfernt ist, umso
landschaftsmäßiger und heimatlicher wirken die
Bilder. Der Betrachter spürt die Tiefe der
räumlichen Erstreckung, er wittert geradezu den
Dunst,
der zwischen dem Vordergrund und einem hügeligen
Hintergrund liegt, oder spürt das Bedrückende
eines bleiern-grauen Himmels. Je näher man den Bildern
in der Betrachtung kommt, umso mehr treten die
gegenstandsbezogenen Assoziationen und Empfindungen
zurück, umso mehr rücken spezifisch
bildkünstlerische Phänomene und Probleme in den
Bewußtseinshorizont des Betrachters, etwa das
Verhältnis von Bildraum und Bildfläche. Und wenn
mann schließlich so nah vor einer kleinen Bildtafel
steht, daß man nur noch sie erfaßt, sind alle
Anklänge an Gegenständlichkeit verloren gegangen.
Man sieht sich mit Problemen reiner Malerei konfrontiert,
etwa mit Relationen von Quantitäten oder der
Raumwirkungen von durchscheindem farbigem Untergrund und von
Übermalungen, die wie eine milchige Flüssigkeit
über den Bildträger geflossen zu sein
scheinen.
Der rotbraune Untergrund, auf den Borchardt seine deckende
Farbe aufgetragen hat, läßt an den Bolusgrund der
Barockmalerei denken. Aber Borchardt setzt ihn nicht wie die
Barockmaler als Lieferanten" für Farbmischungen bei
opaker oder lasierender Übermalung ein, sondern nutzt
ihn bei Aussparungen zwischen deckendem Farbauftrag als
Raumenergie, die aus dem Untergrund des Bildes nach vorne
drängt. Umgekehrt entpuppen sich diejeweiligen Stellen
im Bild, die materiell gesehen am weitesten vorne auf dem
Bildträger liegen, als Farbwerte, die das am weitesten
hinten Liegende in der Landschaft, nämlich den Himmel,
repräsentieren. Diesen Umschlag im Verhältnis von
Vorne und Hinten findet man auch sonst in den Bilder. Die
Voraussetzung dafür ist,
daß Borchardt mit einfachen Flächenformen
arbeitet, wodurch die Gleichwertigkeit und damit die
Vertauschbarkeit von positiven und negativen Flächen
möglich wird. Der Assoziation Blick aus dem
Autofenster", die der Bildtitel nahelegt, wirkt entgegen die
rasterartige Anordnung von jeweils 9 kleinen Bildtafeln auf
einer großen weißen Tafel. Dadurch entsteht der
Gesamteindruck eines Fenstergitters mit breitem Rahmen und
schmalen horizontalen und vertikalen Stäben.
Stellt man die 3 großen Tafeln nebeneinander, so wird
der Eindruck vom Blick durch's Gitterfenster noch
verstärkt. Dabei entsteht eine irritierende
Wahrnehmungssituation: Es entstehen 3 horizontale Reihen von
je 9 Bildtafeln. Die Abfolge in der Horizontalen ist so,
daß nach dem Verlauf des jeweiligen Horizonts der
Eindruck entstehen könnte, man sehe ein
Landschaftskontinuum durch ein Fenster hindurch. An einigen
Stellen wird diese Abfolge durchbrochen und der Betrachter
in der ungestörten Betrachtung aufgeschreckt, was dazu
führt, daß er von einer Betrachtung von links
nach rechts zu einer Betrachtung vom einzelnen Bild von
vorne nach hinten oder zu einer Betrachtung der 3er Reihen
von oben nach unten veranlaßt wird. Dieses Wandern des
Auges einerseits von links nach rechts oder von oben nach
unten und anderseits von vorne nach hinten korrespondiert
unmittelbar mit dem Problem der Relation von Bildfläche
und Bildraum. Der Blick durch's Fenster ist eines der
großen Bildmotive der Romantik gewesen. Das Fenster
als Mittler von Innenraum zu Außenraum bietet die
Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Wohnwelt und
Außenwelt oder Nähe und Ferne, eingebunden in die
Enge der häuslichen Kleinwelt und der Sehnsucht in die
Ferne zu thematisieren. Caspar David Friedrich hat das
Kontinuum von Vordergrund, Mittelgrund und Hintergrund
aufgebrochen und in vielen seiner Bilder Vordergrund und
Hintergrund unvermittelt aufeinanderprallen lassen, um einen
Bruch in der metaphysischen Situation des Menschen
sichtbar zu machen.
Bei Borchardt wechseln räumliche
Kontinuität und Diskontinuität einander ab.
Das Oberflächliche, das durch die deckend aufgetragenen
Farben erzeugt wird, fängt den Blick des Betrachters
ab, versperrt durch den vorhangartig gemalten Himmel das
Bild nach hinten hin.
Die Bilder sind alles andere als idyllisch. Die Vertrautheit
mit dem Nahen, der Ablauf des täglichen Lebens
Umschließenden verbindet sich mit Einstellungen, die
nach landläufiger Auffassung einander
ausschließen müssen: Skepsis, die fernab jeder
Fortschrittsgläubigkeit ist, verbindet sich mit
Bejahung des eigenen Lebensumraumes, Illusionslosigkeit im
Hinblick auf Gefühle, Erwartungen, Hoffnungen und
Traditionen verbindet sich mit der Bereitschaft, sich mit
alledem standhaft auseinanderzusetzen. Die 3 großen
nebeneinander stehenden "Fenster" ergeben eine
merkwürdige Paradoxie: Einerseits erscheint der Blick
durch's Fenster als vertrauenserweckend, da den
kleinformatigen Landschaften alles Bedrohliche,
Überwältigende oder in der Ferne Lockende fehlt,
anderseits verweist die Segmentierung der Landschaft
innerhalb der 3 großen Fenster in 27 kleine,
in sich selbständige Landschaftsbilder auf die
Fähigkeit des Menschen, Landschaft aufzufeldern,
einzugrenzen, zu parzellieren; darüber hinaus aber auch
sie zu verändern, "umzukrempeln",
ja zu zerstören. Für den Autofahrer ist der Weg
von Eschweiler bis zu den Gebieten des rheinischen
Braunkohletageabbaus mit ihren Landzerstörungen nicht
weit. Alles bisher Gesagte verweist auf Fragestellungen der
europäischen Tradition. Das weiße Gitterraster,
das zwischen den kleinen Farbtafeln entsteht, bringt dies in
einer formelhaften Weise zum Ausdruck: Ein
Koordinatengitter, das sich über die Welt legt und
Zusammengehöriges zerschneidet. Demgegenüber ist
es wichtig,
daß Borchardt zentralperspektivische Raumgliederung
vermeidet (das gilt insbesondere für die 3
Mittelglieder der großen Tafeln). Borchardt legt den
Standort des Betrachters nicht fest
(wie dies bei der Zentralperspektive der Fall ist). Die
Landschaften sehen aus, als wären sie vom fahrenden
Auto aus im Vorbeihuschen erfaßt.
Hier bietet sich der Gedanke an
ostasiatische Rollbilder an, auf denen sich
Landschaftsdarstellungen - oft von vielen Metern Länge
- dem Auge so darbieten, das ein kontinuierliches Ablesen
des Landschaftsverlaufes möglich wird, auch wenn im
Auf- und Abrollen des Rollbildes jeweils nur ein Teil der
Landschaft zu sehen ist. Schließlich drängt sich
noch der Vergleich auf mit Negativstreifen eines Films mit
Landschaftsschnappschüssen, die aus dem fahrenden Auto
aufgenommen wurden.
Fassen wir zusammen: In den
Landschaftsbildern von Albert Borchardt verbinden sich auf
eine vielfältig durchdrungene und verquickte Weise,
aber auf der Ebene souveräner Verfügung über
die eigenen bildkünstlerischen Mittel: Momente unseres
Alltaglebens, Sehgewohnheiten unter dem Einfluß
moderner Verkehrsmittel (Auto, Autobus), moderner
technischer Medien (Fotografie, Film, Fernsehnen),
Lebensgewohnheiten mit extremen Tempowechseln (Blick aus dem
Autofenster bei hoher Geschwindigkeit, geruhsames Schauen
aus dem Wohnungsfenster), Leben in der Landschaft und mit
der Landschaft im Bewußtsein ihrer
Zerstörbarkeit, Auseinandersetzung mit der Situation
des heutigen Menschen und des heutigen Künstlers vor
dem Hintergrund der Tradition der europäischen Neuzeit
und der grundlegenden Probleme der Moderne.
Borchardts Bilder verführen den
Betrachter beim ersten Hinschauen dazu, sie zu
unterschätzen.
Je länger sich der Betrachter schauend und
reflektierend auf die Bilder einläßt, umso
deutlicher wird die innere Logik und bildnerische
Konsequenz, die aus äußerster Verknappung
gewonnene Verdichtung und Komplexität.
Prof. Günther H.Blecks
Katalog: Weilburger
Förderpreis für Bildende Kunst 1993
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